Die Patenschaft der Stadt Wendlingen am Neckar über die Egerländer in Baden-Württemberg

Am 27. August 1966 wurde die Patenschaftsurkunde von der Stadt Wendlingen am Neckar an die Egerländer Gmoi Wendlingen am Neckar übergeben. Damit wurde der Beschluss des Gemeinderates vom November 1965 zur Übernahme dieser Patenschaft öffentlich beurkundet. Als Patenschaft wird die freiwillige Übernahme einer Fürsorgepflicht bezeichnet. Eine Patenschaft unterscheidet sich von einer Partnerschaft darin, dass die beiden "Teilnehmer" nicht gleiche Rechte und Pflichten besitzen, sondern eine einseitige Fürsorgeaufgabe wahrgenommen wird.

Über 60 Jahre liegen seit Vertreibung und Deportation zurück. Den Egerländern wurde damit in den Jahren 1945 und 1946 ihre angestammte Heimat, in der sie über 800 Jahre lebten, geraubt. Die vielen Vertriebenen, die damals nach Wendlingen am Neckar kamen, hatten Schweres durchgemacht.  Am 24. Juli 1949 gründete sich die Egerländer Gmoi Wendlingen am Neckar. Man pflegte die Musik, die Volkstänze, die Gedichte, die Traditionen, erzählte Anekdoten und Geschichten aus dem Egerland - kurzum: Man hatte bei den regelmäßigen Versammlungen ein Gefühl von Heimat. Eine "zündende Idee" aus dem Jahr 1952 ist sicherlich ein wichtiger Meilenstein in den Annalen der Egerländer Gmoi Wendlingen am Neckar. Damals wurde angeregt, das traditionsreiche Egerer Erntedankfest, den Birnsunnta, also das Vinzenzifest, in der "neuen Heimat" wieder aufleben zu lassen. Von Anfang an war es nicht als lokales Ereignis konzipiert, sondern als Treffpunkt aller Egerländer im damaligen Bundesland Württemberg-Baden. Von vorneherein dachte man – neben dem eigentlichen kirchlichen Ursprung des Festes – also bereits daran, einen regelmäßigen Treffpunkt zu schaffen - Raum für Heimat- und Kulturpflege, für den Gedankenaustausch, die Auffrischung von Erinnerungen und natürlich auch zum Feiern, an eine Heimstatt der Egerländer im Südwesten also.

Die Idee wurde begeistert aufgegriffen. Nach Vorbereitungen voller Elan fand das 1. Vinzenzifest "neuer Zeitrechnung" noch im gleichen Jahr, am 30. und 31. August 1952, statt. Seit dem Jahre 1694 gab es diese Tradition schon in Eger, stets am letzten Sonntag im August, dem Birnsunnta. Unmittelbar nach dem 14. Vinzenzifest im Jahre 1965 ergriff der Gmoivorsteher Anton Rödl, selbst Mitglied des Stadtrates, die Initiative. Er formulierte am 20. September 1965 einen Antrag an den Gemeinderat: Die Egerländer hätten mit der neu geschaffenen Tradition des Vinzenzifestes der Stadt an Neckar und Lauter eine große Ehre erwiesen, Wendlingen am Neckar sei weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt geworden. Es sei der Wunsch der Egerländer, in Wendlingen am Neckar eine besondere Heimatstadt zu erhalten, wie einst in Eger. In seiner Sitzung vom 11. November 1965 beschloss der Gemeinderat einstimmig, die Patenschaft über die in Baden-Württemberg lebenden Egerländer zu übernehmen. Die Urkunde wurde im Rahmen der ersten Patenschaftsfeier anlässlich des 15. Vinzenzifestes 1966 von Bürgermeister Helmut Kaiser an Toni Rödl überreicht.

Jetzt war die Verbundenheit der Stadt Wendlingen am Neckar mit den Egerländern in Baden-Württemberg ganz offiziell. Im Jahre 1968 erfolgten Beschlüsse des Gemeinderates zur Verwirklichung einer Egerländer Heimatstube und zur Gründung eines Patenschaftsrates. Anlässlich der ersten Sitzung des Patenschaftsrates gab Bürgermeister Helmut Kaiser bekannt, dass nunmehr ein Klassenzimmer im alten Unterboihinger Schul- und Rathaus für die Egerländer Heimatstube zur Verfügung stünde - so ein einstimmiger Beschluss des Gemeinderates. 1970 wurde diese anlässlich des Vinzenzifestes eröffnet. Nachdem das Gebäude im Jahre 1997 verkauft wurde, mussten die Ausstellungsstücke vorübergehend verpackt und zwischengelagert werden, bis sie ab 2009 einen Platz im neuen Treffpunkt Stadtmitte fanden.

Die Stadt trug gemäß ihrer patenschaftlichen Verpflichtung mit der Benennung zahlreicher Straßen nach Egerländer Orten der äußerlichen Erinnerung an die Egerländer Heimat Rechnung. Beim Vinzenzifest 1978 wurde ein alter Brauch aus dem Egerland wieder aufgegriffen: Nach dem Gottesdienst wurden Birnen unter den Festgästen verteilt. Jetzt hatte auch Wendlingen am Neckar seinen "echten" Birnsunnta.

Das 30. Vinzenzifest 1981 bot den Rahmen, eine Reliquie des Heiligen Vinzenz nach Wendlingen am Neckar zu bringen. Sie fand ihren Platz in der 1976 eingeweihten Vinzenzikapelle, einer Seitenkapelle der St. Kolumban-Kirche. Dass die Stadt die Verpflichtungen aus ihrer Patenschaft Ernst nimmt, hat die Sudeten-deutsche Bundesversammlung dazu bewogen, der Stadt anlässlich des 34. Vinzenzifestes 1985 eine vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß und Franz Neubauer, dem Sprecher der sudetendeutschen Volksgruppe, unterzeichnete Urkunde für vorbildliche Patenschaft zu überreichen.

Ein weiterer Meilenstein war im Jahre 1988 die Einweihung des Egerland-Brunnens in der Neuen Stadtmitte. Nach den Umbrüchen im Ostblock konnten zum Vinzenzifest 1990 erstmals Gäste aus Eger in Wendlingen am Neckar begrüßt werden. Die in der Folge gegenseitigen Besuche zu besonderen Anlässen haben sich längst zu einer Städtefreundschaft entwickelt. Schließlich bietet die Stadt Wendlingen am Neckar Unterstützung bei der Vorbereitung und Organisation des Vinzenzifestes, leistet im Rahmen der städtischen Vereinsförderung Hilfe bei der Trachtenbeschaffung und stellt Räumlichkeiten für die Volkstanzgruppe zur Verfügung. Auch nach über 40 Jahren werden die guten Beziehungen noch weiter gepflegt.  Wendlingen am Neckar ist die Heimstatt – die "neue Heimat" - der Egerländer im Südwesten und wird es auch bleiben.