Hans-Jürgen Boßler
Fotos: Privat
„Über die Situation der Juden hat man nichts Positives oder Negatives erfahren. Auch in der Familie sprach man nicht darüber, so, als wenn es das nicht gegeben hätte.“
Die Flucht
In der Zeit vom 16. bis 30. Oktober 1944 löste die sogenannte Gumbinnen-Goldaper Operation die erste große Fluchtwelle aus Ostpreußen aus. Obwohl es bereits im Sommer 1944 vor allem in den Grenzgebieten vereinzelte Evakuierungen gab, war es das erste Mal, dass die Rote Armee in größerem Umfang in das deutsche Reichsgebiet vorstieß.
Auslöser der Flucht waren Berichte über Gräueltaten der sowjetischen Truppen, die Panik in der Bevölkerung ausgelöst hatten. Obwohl die Militärs am Ende wieder zurückgedrängt und die Front stabilisiert werden konnte, war das Vertrauen der Menschen in die Verteidigungsfähigkeit der deutschen Wehrmacht erschüttert.
„Der Vater, der hat nie an den Sieg geglaubt.“
In den Wintermonaten 1944/45 flohen Millionen Menschen, zunächst aus Ostpreußen, dann aus Schlesien und Pommern. Zu Fuß, mit Pferdefuhrwerken oder einfachen Handwagen setzten sich endlose Züge in Richtung Westen in Bewegung. Alte Menschen, Frauen und Kinder waren den Übergriffen, Gewaltexzessen und Morden der vorrückenden Roten Armee schutzlos ausgeliefert.
Rund fünf Monate dauerte die Flucht bis Hans-Jürgen und seine Mutter im Frühjahr 1945 Litauen und den Hof von Familie Kudlinski erreichten, der nahe der Bezirkshauptstadt Marijampole lag.
Hier war Erika Boßler als Magd tätig. Rasch hatte der zweijährige Hans-Jürgen das Herz der Fam. Kudlinski erobert. Damit der blonde Junge nicht Gefahr laufe, als deutsches Kind entlarvt zu werden, wurde er nun Jürischki gerufen.
Mit Großmutter Nern und seiner Tante Christa hingegen hatte es das Schicksal nicht gut gemeint. Sie bekamen bei ihrer Bauersfamilie wenig, am liebsten nichts zu essen.
Im März 1946 hatte der dreieinhalbjährige Karl-Heinz in der Wohnstube des Bauernhauses ein Erlebnis, das für sein weiteres Leben prägend war.
„Da war ich dann auf der Ofenbank. Ab dem Moment kann ich mich an so viele Dinge erinnern. Auch heute noch, wenn ich manchmal so alleine bin“.
Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren sowjetische Soldaten weiterhin in Litauen stationiert und verhielten sich brutal gegenüber der Zivilbevölkerung. Übergriffe auf wehrlose Frauen blieben an der Tagesordnung. Meist nachts kamen die Soldaten auch auf den Hof von Familie Kudlinski und forderten, bewirtet zu werden. Für die junge Erika Boßler eine prekäre Situation. Sie musste sich vor drohenden Übergriffen verstecken. Eines Tages entdeckten die Soldaten den kleinen Karl-Heinz und fragten nach seiner Mutter. Um das Kind zu schützen, gab das ältere Bauernehepaar den Jungen als ihren Enkel aus.
Mehr und mehr entwickelte Hans-Jürgen ein Heimatgefühl zum Hof und dem Ehepaar Kudlinski.
„Ich fühlte wohl, dass die Zeit des ständigen Unterwegseins vorbei war, wenigstens für eine gewisse Zeit.“
Verstärkt wurde sein Gefühl des Zuhauseseins durch den Hofhund Rexas, der ihm ein Stück innerer Sicherheit gab und ein enger und vertrauter Freund wurde.
Seine Kindheitserinnerungen, die Erzählungen seiner Mutter über Flucht und Neuanfang im Westen, hielt Hans-Jürgen Boßler in einem Buch fest, das er gemeinsam mit seinem Nachbarn, dem Historiker Dr. Gerhard Hergenröder, verfasste. Wie gegenwärtig ihm das Erlebte noch immer ist, belegen seine Zeichnungen, die Teil des Buches sind.
An die Erzählung solcher Episoden erinnert sich Hans-Jürgen Boßler noch heute sehr genau. Auch an die unfassbare Geschichte eines etwa 10 bis 12 Jahre alten Mädchens, die für viele Schicksale in jener Zeit stellvertretend war.
Während es dem kleinen Hans-Jürgen in Litauen an nichts fehlte, sehnte sich Erika Boßler nach einem freien Leben im Westen und nach ihrem Mann Max, der seit Kriegsende wieder in seiner Geburtsstadt Kirchheim unter Teck lebte.
„1948 - Gefühle des Abschieds. Dass wir eines Tages Litauen verlassen werden, wusste ich. Ich sollte ein Land verlassen das ein Paradies für mich war als Kind. Hier fühlte ich mich frei, hier hatte ich einen Freund, hier wurde ich gemocht.“
Der Gedanke an eine Abreise Richtung Westen war für den Fünfjährigen unvorstellbar.
Alle wurden am ganzen Körper besprüht. Eine Dusche, um sich von dem giftigen Pulver zu befreien, gab es nicht. Insbesondere Hans-Jürgen litt an den Folgen der Aktion, die ihn mehrere Tage durch hohes Fieber, Appetitlosigkeit und einen starken Husten plagte.
„Obwohl mir hundeschlecht war, schaute ich eifrig aus den Bullaugen des Flugzeugs. Ich wollte die Engel sehen, von denen Mutter mir immer erzählt hatte.“
Die alliierten Siegermächte hatten den Flugverkehr für Privatpersonen von Berlin aus in die drei Besatzungszonen eingestellt. Dennoch gelang es Onkel Kurt, vier Flugscheine für Hans-Jürgen, Mutter Erika sowie für ihre Mutter und Tante Christa zu organisieren. Wie ihm das gelang blieb sein Geheimnis. Mit etwas Taschengeld, das die Reisenden von Onkel Kurt erhielten, ging es zunächst vom Flughafen Berlin Tempelhof aus nach Hannover und letztlich mit dem Zug in das ersehnte Kirchheim unter Teck.
Neue Heimat Wendlingen am Neckar
„Max, komm runter, dei Christkindle isch do!“
Es war jedoch gerade jener Zug, mit dem die ersehnte Familie am Weihnachtstag 1948 in Kirchheim eintraf. Umgehend suchten die Ankömmlinge das Haus der Verwandten auf, in dem Großvater Herrmann Nern bei seiner Tochter Elsa und ihrem Sohn Kurt lebte. Elsa nahm die Verwandten in Empfang und führte sie zur Wohnung des Vaters, die in direkter Nachbarschaft lag.
„Vater hatte mich zuletzt in Ostpreußen gesehen als ich 11 Monate war, nun war ich fast sechs Jahre alt.“
Rund drei Monate nach seiner Ankunft in Kirchheim begann ein neuer Lebensabschnitt für Hans-Jürgen, der zunächst sehr unerfreulich war. Kinderbanden beherrschten die Straßen und reglementierten, wer mit wem in Kontakt sein durfte. Nicht selten drohten auch traumatisierte Kriegsversehrte den Kindern mit Gewalt. Für Hans-Jürgen jedoch entwickelte sich die Schule zur größten Herausforderung.
Nach dem Schulabschluss begann Karl-Heinz Boßler eine Ausbildung zum Automechaniker. Da er für sich nach seinem Abschluss keine Zukunft in diesem Handwerk sah, meldete er sich freiwillig bei der Bundeswehr. Bei den Gebirgsjägern Bad Reichenhall beschritt er rasch eine respektable Laufbahn die ihm eine Beförderung zum Ausbilder in Aussicht stellte.
Nach zweijähriger Krankheit starb der Vater, der keine Rentenversicherung hatte, sodass die Familie in Not geriet. Mutter Erika, die in Heimarbeit arbeitete, konnte die Familie nicht alleine versorgen. Um sie und seinen 1956 geborenen, achtjährigen Bruder zu unterstützen, ließ sich Karl-Heinz Boßler vorzeitig aus der Bundeswehr entlassen und verdiente fortan durch verschiedene Vertriebstätigkeiten den Lebensunterhalt für die Familie.
Bald darauf lernte er bei einem Besuch in Wendlingen am Neckar seine spätere Frau kennen. Das Paar heiratete 1969 und zog in das Haus der Schwiegereltern, das sie später übernahmen.
Durch einen Zufall sah seine Frau, dass die Dresdner Bank eine Stelle als Kassierer zu besetzen hatte. Karl-Heinz Boßler bewarb sich, bekam die gut dotierte Stelle und wechselte später zur Volksbank Nürtingen, die ihm den Besuch der Genossenschaftsakademie in Hohenheim ermöglichte und als Sprungbrett für seine weitere Karriere diente.
1978 begab sich Karl-Heinz Boßler auf Spurensuche in seine ostpreußische Heimat. Nach Gumbinnen und Groß-Waltersdorf, in dessen Kirche seine Eltern geheiratet und er geboren wurde, standen nur noch die Mauern. Sein Geburtsort Praßfeld wurde dem Erdboden gleich gemacht.
Hans-Jürgen Boßler hat viel von der Welt gesehen. Mit seiner Heimat Wendlingen am Neckar fühlt er sich sehr verbunden. Doch wenn er zurückdenkt, fühlt er auch mit Litauen, dem Ort seiner frühen Kindheit, eine starke Heimatverbundenheit.
Über seine Kindheit und die Flucht wollte sein Sohn nichts wissen. Sehr gerne verbrachte dieser Zeit bei der Großmutter, aber auch hier wurde nicht über die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse gesprochen.
„Ich kann es nicht mal erklären warum so war“.
Heute jedoch sind gerade junge Menschen an den Erinnerungen von Hans-Jürgen Boßler sehr interessiert. Auch sein 17-jähriger Enkel, der mit Freunden gerne den Großvater besucht, zuhört und nachfragt.